¡Ah Chinampas!

Ich war ziemlich überrascht, als ich spätabends das Licht einschaltete und eine wunderschöne, große Libelle an der Wand in meiner Küche saß. Es hat schon eine gewisse Ironie, dass ein Wasserwesen wie die Libelle ausgerechnet in einer Küche nach erholsam-kühlender Frische sucht. Aber auch kein Wunder – da draußen herrschen Backofentemperaturen von 36 Grad im Schatten, die Luft wirkt staubig. Es herrscht Dürre, die Erde ist wie verbrannt und die Aussicht auf eine selbst kümmerliche Ernte der herbstabräumenden Kulturen schwindet – wieder einmal – mit jedem Tag ohne Regen.

Ich weiß nicht ob die „Terra-preta Menschen“ Dürreerfahrungen hatten, doch folgten sie übers Meer kommend, den großen Wassern stromaufwärts und jedenfalls dürften sie ursprünglich Wirtschaftsflüchtlinge gewesen sein – so die allgemein anerkannte Vermutung. Interessant erscheint mir, dass sie sich ausgerechnet einen Ort des guten, zukünftigen Seins gewählt haben, wo es auf den ersten Blick ganz und gar nicht danach aussieht. Ja eine dauerhafte Ansiedlung sogar ausgesprochen unattraktiv und verrückt erscheint. Heute würde man dieses Vorgehen wahrscheinlich „Blaue-Ozean-Strategie“ nennen.

Genauso agierten die präkolumbianischen Völker des heutigen Mexikos, die Tolteken, die Azteken, etc., die sich in Sümpfen niederließen.

Sie errichteten darin sowas wie Kanalsysteme aus rechteckigen Garteninseln, die aus Stämmen, Flechtwerk und aufgefüllten schwarzen Sumpfschlamm aufgebaut wurden. Jahr für Jahr wurde eine neue Schlammschicht aufgetragen, die düngte ihre Feldfrüchte und Gemüse und war völlig unkrautfrei. Die Blaugrünen Algen des Supfwassers (neuere Bezeichnung Cyanobakterien; gelten als älteste Lebewesen der Erde) sorgen für üppige Stickstofffixierung, die sich dann am Grund absetzt. Fische, Jagdtiere und Moschusenten (eine der wenigen domestizierten Haustierarten der Amerikas) sorgten für fleischliche Genüsse. Im salzigen Texcoco See wuchs die Alge Spirulina maxima, die heute als teures Superfood vermarktet wird. Sie betrieben so für lange Zeit eine sehr verlässliche und die ertragreichste Form aller bisher bekannten Agrarsysteme überhaupt in bereichernden Zusammenspiel mit dem Naturraum Sumpf. Vielleicht ist es diese Art von beobachtender Lassenskraft, des Mit-Denkens Mit-Fühlens und dieser Art der Wahrnehmung folgender Formgebungen, die diese einzigartige Chinampas-Landschaft mitgestaltet hat und sowas wie ein Allheilmittel für so vieles sein könnte. Es ist diese andere Seite der „Terra preta“, andere Seite der Inkohlierung von organischem Material, neben der Pyrolyse mit dem Feuer, die mikrobielle Karbonisierung der sauerstoffarmen, wässrigen Tiefen der Meere, Sümpfe, Teiche, Seen. Irgendwo dort wurde wohl auch diese wunderbare Libelle, die in meiner Küche saß, geboren – wie schön…

Hier eine Szene aus dem Film „Ya No Estoy Aqui“ (Ich bin nicht mehr da) mit einem jungen Mexikaner, der dem Fluch der Gewalt, Aussichtslosigkeit, illegaler Migration und des „Plata o Plomo“ (Silber oder Blei) des heutigen Mexikos für kurze Zeit entflieht und die Cumbia tanzt, und sich dabei, vielleicht sogar an die schwarze Erde der alten Chinampas erinnert.

Franz Schweinberger

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